Wer schreibt hier?

Wer schreibt hier?

„Aber vielleicht müssen alle Elemente der Lage noch einmal anders gesehen, die Phänomenologie der Krise daraufhin geprüft werden, ob sie nicht selbst in die Krise geraten sind.“
(Rosa Mercedes / Harun Farocki Institut)

Als sich am 17. März 2020 der erste Lockdown in Berlin ankündigte war ich, wie viele andere, ungläubig, erstaunt und fragend angesichts der radikalen Veränderungen, die vor meinen Augen mit meinem Leben auf einer aushaltbaren und dennoch verrückten Art, mit vielen Strukturen um mich herum tiefgreifender einherging. Ich ärgerte mich über die Einschränkungen, ich verstand nicht, was da
gesamtgesellschaftlich passierte. Ich wurde an meinen Schreibtisch zurückgeworfen und versuchte, wie gewohnt, mich mit meiner Arbeit und mit meinem Denken zu beschäftigen. Gleichzeitig führte ich viele Gespräche darüber, in welcher Position ich gerade dem Virus begegne. Ausgehend von meiner Position (weiß, Studentin, queer, gesund, einigermaßen abgesichert) suchte ich automatisch
Verarbeitungsstrategien und Anknüpfpunkte in meinem derzeitigen Forschungsschwerpunkt: Die
feministische Wissenschaftskritik
. Ich erarbeitete aus meiner im Wintersemester 2019/20 geschriebenen Hausarbeit erste Ansätze für meine Masterarbeit heraus und suchte nach den Brücken zu dem, was da draußen, abseits von meinem Schreibtisch passierte. Ich befragte meine Wissenschaft, die den Anspruch erheben sollte, politisch zu sein. Diese rein akademische Politisierung wurde zum Versuch, abgebrochene Verbindungen zu der sogenannten Außen-welt auf brüchige Weise wieder herzustellen und damit gegen eine gefühlte Vereinzelung anzugehen. Ausgehend von der Befragung eines vorherrschenden
Objektivitätsverständnis fand ich mich im erste Lockdown in den Ansätzen feministischer
Wissenschaftskritik wieder, die mit mir zunächst feststehende Verhältnisse befragt:

Wie wird Wissen gemacht?

Diese Frage führt über in die Kritik an einem androzentrischen Wissenschaftssystem und an einer
Auslagerung einer Sozialität aus wissenschaftlichen Kategorien und Aussagen. Diese Auslagerung
bekam ich durch den Lockdown zu spüren und ich machte sie mir zum Vorwurf. Gab es in solch einer
Krise die Berechtigung der politisierten Schreibtischarbeit? Eine Frage, die ich viel in meinem
Freund_innenkreis befragte und diskutierte, in dem Bewusstsein, dass wir alle eine privilegierte Ausgangsbasis teilten, die uns die Miete und primäre Gesundheit sicherte. Was wegbrach, waren Räume der geteilten Sozialität und Kollektivität, Safer Spaces und Orte der inhaltlichen sowie erfahrungsähnlichen Begegnungen. Was bedeutet das für meine Flucht in meine Forschungsarbeit?

Welchen Anspruch von Wissenschaft habe ich?

Wenn ich mit Judith Butler und Sabine Hark erarbeite, was es heißt, Kritik zu üben und die Antwort in den Raum werfe, dass Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten soll, fordere ich eine kritische Haltung von mir, die beginnt Fragen dahingehend zu stellen, wie was gedacht, erzählt, verteilt, be- und
entwertet wird. Aus welcher Position nehme ich diese kritische Haltung in Zeiten einer globalen
Pandemie ein? Ab dem 22. März 2020 wurde eine absolute Kontaktreduktion beschlossen.„Deshalb sind von morgen an Zusammenkünfte und Ansammlungen in der Öffentlichkeit von mehr als zwei Personen verboten. Ausgenommen ist dabei jedoch die Kernfamilie.“ Als alleinwohnende, lesbische Person spürte ich die Gewalt des politischen, normativen Sprachgebrauchs. Ich fand mich in den ausgeführten Corona-
regeln nicht wieder. Ich habe weder eine Wohngemeinschaft noch eine dem Verständnis der Politik
gemäße Kernfamilie. Was nicht bedeutet, dass ich nicht ein umfassendes Netz habe, das ich liebe und das mich hält. Der Wert meiner Freund_innenschaften ist mir gerade während Corona nochmal deutlicher
geworden. Zeitgleich mussten wir uns aus den vorgesetzten Regeln eine eigene Strategie basteln, indem wir uns zu kleinen Virengemeinschaften (digital aber auch physisch) zusammen fanden. Mir fielen die permanenten Ausschlüsse auf, die die Regeln der Pandemie musterhaft unterstrichen, die aber
keineswegs neu waren. Welche Normalität wird hier verändert? Von welcher objektiven gesellschaftlichen
Ausgangslage gehen wir aus, wenn wir die durch den Virus verursachte Krise als Einbruch bisher
vorhandener Normalität definieren? Die Coronaregeln verdeutlichen die Souveränität eines normativ-
deutschen Gesellschaftsverständnisses
: In meinem Fall war es die Kernfamilie, durch die ich mich
gestoßen fühlte, in vielen sehr viel extremeren Fällen ist es die Frage danach, in welches Zuhause sich nun zurückgezogen werden soll.

Diese deutsche Normativität ist geprägt durch ein heteronormatives Lebensbild, das von der (nationalen sowie individuellen) Autonomie seiner Bürger_innen ausgeht.

Das ist nichts Neues, es ist nur verstärkt zu beobachten seit März 2020. Der Sommer 2020 lässt sich
retrospektiv durch ein kurzweiliges Aufatmen beschreiben (das uns nun seit Oktober 2020 Rechnung trägt). Zwar blieb die Situation für die Studierenden digital, doch gab es zwischen Mai – September eine kurzweilige Zeit der Lockerungen: Kulturorte und Bars hatten wieder geöffnet. Begegnung war in einem weiteren Rahmen wieder möglich. Besonders durch etliche Demos, die in Berlin (und der gesamten Welt) stattfanden, fand ich wieder heraus, was es bedeuten kann, an einem Wir-Gefühl angeschlossen zu sein und erahnte, was ausgehend von meinen feministischen Theorieansätzen, Sozialität und Kollektivität
bedeuten muss. Ich fand wieder Anschluss an (queere) Menschen, konnte mich außerhalb meiner
Bezugsgruppe austauschen und Erfahrungen der vergangenen Monate teilen. Hier lernte ich auch
nochmal, wie gut es mir vergleichsweise in diesem ersten Lockdown ging. Ich war froh, das, was ich am Schreibtisch erarbeitet hatte zu beleben, dementsprechend auch zu verwerfen bzw. zu modifizieren. Im Herbst (im Zuge der sich ankündigenden zweiten Lockdown-Phase) nahm ich die im Sommersemester aus-
gearbeiteten Gedanken wieder auf. In diesem Sinne kehrte ich zurück zum Schreibtisch. Ich spürte beim Lesen meiner Hausarbeiten und Essays und meiner Projektskizze den Halt, den mir diese Gedanken
gegeben hatten. Und gleichzeitig hatte ich mich davon entfernt. Ich war irritiert. Der erarbeitete Begriffsapparat fühlte sich fremd an. Der Sommer, der Austausch, die kurzzeitig verminderte Distanz zu
Menschen zeigten mir, wie viel ich nicht bedacht habe, welche Gefahren der Ausschlüsse ich
möglicherweise produzieren werde, wie ich nur ausgehend von der eigenen Erfahrung im Glauben eines zaghaften Wissens um gesamtgesellschaftliche Kontexte gedacht und gearbeitet habe. Ich befragte die Solidarität, die ich (ausgehend von Hark) zu buchstabieren begonnen hatte. Zudem stellt sich ein Gefühl der Lustlosigkeit und der Verunsicherung ein. Längst war klar, dass die Pandemie kein kurzzeitiger
Einschnitt sein wird, sondern langfristig privates, politisches und gesellschaftliches Leben verändert. Mit
dieser Einsicht merkte ich einen eigenen Rückzug ins Private, der mir aber erst seit ein paar Wochen
deutlich wird. Im Januar 2020 stellte ich bisher erarbeitete Ansätze zum Thema Hochschule & Corona vor. Ausgehend von der Notwendigkeit einer Sozialität der Universität rief ich anknüpfend an Harks Text Die Netzwerke des Lebens erneut den Kritikbegriff auf, der im Corona-Kontext beginnen muss, Fragen zu stellen:

Welche Stimmen finden aktuell Gehör? Welche Regeln werden für welche Körper konzipiert?

Dazu gilt es, einen eigenen Souveränitäts- und Autonomieanspruch ad acta zu legen. Zurück blieb ein schales Gefühl. Das Referat ließ mich meine eigene Selektierung reflektieren. Seit Herbst 2020 resultierte aus meiner eigenen Müdigkeit ein zunehmend individualisierter Ansatz, mein Denken, mein Alltag, meine Zukunftsplanung zu gestalten. Konträr zu meinen durch Corona bestärkten Forschungsansätze fand ich mich selber als Produkt bisheriger Coronamaßnahmen wieder, Angst und Müdigkeit sowie fehlender Austausch, aber auch Schutzraum ließen mich auf mich selbst zurückziehen, auf mein Privileg des
Schreibtisches und der dezidierten Auseinandersetzung mit meiner Zukunft. Damit kehre ich zurück zu meinem Begriffsapparat, den ich anhand der eigenen Befragung sortieren muss.

Wenn die Krise die radikale Unterbrechung der Normalität verkündet, ist sie vielleicht inzwischen zur weiteren Normalität geworden und trotzdem hat sich nichts verändert.

Meine Anordnung einer Phänomenologie der Krise ist somit der Versuch einer Epistemologie der Krise durch einen dezidiert unvollständigen Begriffsapparat, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben darf. Er ist der Versuch einer Anordnung, die ebenso viele Frage zu stellen beginnt, wie sie im Begriff war, Antworten zu finden.


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Phänomenologie der Krise


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